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Polen: Gesundheitswirtschaft unter Zeitdruck

Die Mitgliedschaft im Schengen-Raum und EU-Fördermittel aus diversen Fonds haben Polen in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Der deutsch-polnische Handel boomt, auch die Gesundheitswirtschaft profitiert. Dennoch gibt es strukturellen Herausforderungen im Gesundheitssystem. 

Von Walter Liedtke (pressto GmbH)

Polen ist Europas Powerhaus

Wer sich bei Frankfurt/Oder an die Autobahn stellt und beobachtet, wie viele LKW die Grenze passieren, hat ein klares Indiz dafür, was die offene Grenze bewirkt hat. Vier Jahre nach dem EU-Beitritt im Jahr 2004 trat Polen auch dem Schengen-Raum bei. Seitdem hat der deutsch-polnische Handel stark zugenommen. Seit 2011 gibt es auch für Arbeitnehmer keine Beschränkungen mehr. Davon profitieren beide Seiten – Deutschland und Polen. Im Jahr 2022 arbeiteten etwa 93.000 Beschäftigte aus Polen als Pendler in Deutschland. 

„Polen gilt heute als eines der wirtschaftlichen Powerhäuser in Europa“, sagt Christopher Fuß, GTAI-Korrespondent in Warschau: „Die Industrie und das verarbeitete Gewerbe haben sich hier in den vergangenen zehn Jahren deutlich besser entwickelt als in anderen mittelosteuropäischen Staaten.“ Unter den Außenhandelspartnern Deutschlands liegt Polen heute auf Platz 5 – vor Ländern wie Italien oder Österreich.

Erasmus Programm ein voller Erfolg

Durch die Mitgliedschaft in der EU können junge Menschen leicht an ausländischen Universitäten studieren. „Viele Polinnen und Polen haben am Erasmus-Programm teilgenommen und während ihres Studiums ein Auslandsjahr absolviert, um Zusatzqualifikationen aufzubauen. Dieser rege Austausch wäre ohne den EU-Beitritt nicht möglich gewesen“, erläutert GTAI-Korrespondent Fuß. Und die EU fördert Polen auch finanziell. Das merkt man besonders seit dem Regierungswechsel im Dezember 2023.

4,4 Milliarden EU-Mittel für die polnische Gesundheitswirtschaft

Als Reaktion auf die Corona-Pandemie hatte die EU-Kommission den „Aufbau- und Resilienzfonds“ ins Leben gerufen. Mit diesen Mitteln sollen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie ausgeglichen und der sogenannte „Green Deal“ in allen Wirtschaftsbereichen vorangetrieben werden. Doch die Mittel wurden wegen der Verstöße der alten polnischen Regierung gegen die EU-Grundsätze in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit lange zurückgehalten. Das hat sich jetzt geändert. Für den April 2024 wurde die Überweisung der ersten Tranche von 6,3 Milliarden Euro der ARF-Mittel an Polen angekündigt. Bis 2027 könnten allein aus diesem Fonds 4,4 Milliarden Euro in die polnische Gesundheitswirtschaft fließen. Sie dienen dem Einkauf neuer medizinischer Geräte für Krankenhäuser und Arztpraxen, dem Ausbau der medizinischen Ausbildungs- und Forschungslandschaft sowie der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Da viele Geräte gerade im Bereich der Spitzentechnologie aus dem Ausland eingekauft werden, eröffnet das auch Exportchancen für deutsche Unternehmen. Doch das polnische Gesundheitssystem leidet unter strukturellen Problemen.

Widerstände gegen Krankenhausreformen

Bereits in den letzten 20 Jahren flossen EU-Fördergelder aus diversen Fonds in das polnische Gesundheitswesen. Kommunale Krankenhäuser konnten dadurch neue Abteilungen bauen und Geräte einkaufen, zum Beispiel Kernspintomografen oder Röntgengeräte.

Doch die Fördermittel können nicht die strukturellen Defizite des polnischen Gesundheitssystems lindern. Die Diagnose von Christopher Fuß ist eindeutig: „Das öffentliche Gesundheitssystem ist unterfinanziert und es gibt viele verschuldete Krankenhäuser. Weil das Land eine so große Fläche zu versorgen hat, verfügt Polen im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl über sehr viele Krankenhäuser.“ Die Widerstände gegen Reformen sind groß: „Polen tut sich sehr schwer mit Krankenhausreformen. Keine kleinere Stadt will ihr Krankenhaus aufgeben. Das sind ja auch wichtige lokale Arbeitgeber.“

Die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems rührt auch daher, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenkasse, die alle Arbeitnehmer in Polen zahlen, relativ niedrig sind und es auch keinen Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung gibt. Christopher Fuß: „In Bezug auf seine öffentlichen Gesundheitsausgaben liegt Polen im europäischen Vergleich im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auf einem der untersten Plätze.“

Private Krankenzusatzversicherung als Lohnzusatzleistung

Diese Situation hat dazu geführt, dass sich in Polen ein großer Markt für private Gesundheitsdienstleistungen entwickelt hat. Wer heute eine Arbeit in Polen aufnimmt, erhält in sehr vielen Fällen vom Arbeitgeber eine private Krankenzusatzversicherung als Lohnzusatzleistung auf Gold-, Silber- oder Bronze-Niveau hinzu. Christoper Fuß: „Es gibt private Franchisenehmer von Arztpraxen wie Luxmed oder Medicover. Wer eine private Krankenzusatzversicherung hat, lässt sich in diesen Arztpraxen behandeln.“

Vom Vertriebs- zum Produktionsstandort

Exportorientierte Unternehmen der deutschen Gesundheitswirtschaft und der Pharmaindustrie haben früher in Polen ausschließlich Vertriebsniederlassungen betrieben. Das hat sich geändert. „Bayer macht hier IT-gestützte Arzneimittelentwicklung“, berichtet Christopher Fuß. Der Leverkusener Konzern verwaltet von Warschau aus seine Konzernaktivitäten in Mittelosteuropa. Seit 2021 gibt es auch einen sogenannten „DigiHub“: „Hier arbeiten IT-Spezialisten von Bayer an Software-Lösungen, die bei der Entwicklung von neuen Medikamenten und Therapien helfen sollen. Polen ist damit in Bayers Firmenstrategie vom Vertriebsstandort zum Forschungs- und Entwicklungszentrum aufgestiegen. Das Entwickler-Team in Warschau arbeitet mit Kollegen in Deutschland, USA und anderen Standorten zusammen“, erläutert der GTAI-Experte.

Auch das Unternehmen Fresenius Kobi produziert zum Beispiel in der polnischen Stadt Błonie Infusions- und Transfusionssets oder Sets für die Insulintherapie. Fresenius Kobi beschäftigt in seinem polnischen Werk nach eigenen Angaben etwa 1.700 Menschen.

Modernisierung medizinischer Versorgungszentren fraglich

Durch die Freigabe der ersten Tranche aus den ARF-Fördermitteln gerät Polen unter Zeitdruck. Bis August 2026 müssen die Fördergelder verwendet und die Projekte abgeschlossen sein, die mit diesem Geld finanziert werden. Wie die Unternehmensberatung CRIDO in einer Untersuchung festhält, drohen vor allem die Investitionen im Gesundheitswesen zu scheitern. Das Gesundheitsministerium will medizinische Versorgungszentren modernisieren. Laut CRIDO befinden sich diese Projekte jedoch in einem frühen Stadium und werden möglicherweise nicht bis August 2026 fertig. Dann bliebe Polen auf den Kosten sitzen, sofern das Gesundheitsministerium die Vorhaben überhaupt ausschreibt.

Gute Exportchancen für deutsche Gesundheitswirtschaft

Das trübt die Exportchancen für die deutsche Gesundheitswirtschaft jedoch nicht nachhaltig ein, denn die generellen Rahmenbedingungen sind gut: Mit dem steigenden Wohlstand muss sich Polen mit allen typischen Symptomen einer Wohlstandsgesellschaft auseinandersetzen: Durch eine höhere Lebenserwartung entsteht auch mehr Behandlungsbedarf von alterstypischen Krankheiten. Der private Gesundheitssektor gewinnt weiter an Bedeutung. GTAI-Korrespondent Christopher Fuß: „Bei steigendem Wohlstand sind die Menschen in Polen auch bereit, mehr aus eigener Tasche für ihre Gesundheitsversorgung zu investieren.“ Außerdem ist auch in Polen der Fachkräftemangel inzwischen ein Thema. Deswegen ist es für Unternehmen geradezu eine Notwendigkeit, ihren Beschäftigten die private Zusatzversicherung anzubieten.

Da Polen EU-Mitglied und Teil des Schengen-Raums ist, sind Investitionen deutscher Unternehmen der Gesundheitswirtschaft in Polen rechtssicher. Die klare Strategie der Regierung besteht in einer besseren Ausstattung von Krankenhäusern und Arztpraxen mit modernen und intelligenten Lösungen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sollen die Ausgaben für das Gesundheitswesen bis 2027 auf 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Das „Investitionsprogramm für die Modernisierung medizinischer Einrichtungen" der polnischen Regierung läuft von 2022 bis 2029 und hat einen Umfang von knapp 7 Milliarden Złoty (1,64 Milliarden Euro).

Hohe Zufriedenheit mit EU-Mitgliedschaft

Die Stärkung des Gesundheitswesens aus Eigenmitteln und durch EU-Förderfonds trägt auch zur allgemeinen Zufriedenheit der polnischen Bürgerinnen und Bürger mit ihrer EU-Mitgliedschaft bei. Im Herbst 2023 gaben 80 Prozent der Befragten in Polen an, sich voll und ganz oder teilweise als Bürger bzw. Bürgerin der Europäischen Union zu fühlen. Damit lag die Selbsteinschätzung der Menschen in Polen über dem Durchschnittswert von 72 Prozent in allen EU-Mitgliedsstaaten.

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